dieser Artikel von http://www.neues-deutschland.de vom
28.10.2011 wird Ihnen empfohlen
Allah wahduhu ya'rif - Gott
allein weiß es
Er ist der Doyen unter den Orient-
und Islamkennern. Seine Analysen und Prognosen haben sich fast alle bewahrheit.
Umso gespannter darf man auf das neue Buch von Peter Scholl-Latour sein, das
heute erscheint: »Arabiens Stunde der Wahrheit. Aufruhr an der Schwelle
Europas« (Propyläen, 400 S., geb., 24,99 ). Der langjährige
ARD-Korrespondent verknüpft 60-jährige Erfahrung als Chronist des
Weltgeschehens mit aktuellen Reiseeindrücken aus Nordafrika und Nahost. Mit
Peter Scholl-Latour sprach Karlen Vesper.
ND: Herr Professor Scholl-Latour, was
derzeit in Nordafrika geschieht, muss für Sie unglaublich aufregend sein. Hat
Sie der Arabische Frühling überrascht?
Es war eine freudige Überraschung. Aber von Frühling kann nicht mehr die Rede
sein. Es bleibt zu hoffen, dass der arabische Herbst nicht in einen frostigen
Winter umschlägt.
Wieso sagen Sie das?
Weil der anfänglichen Begeisterung Enttäuschung gewichen ist. In Tunesien sind
die wirtschaftlichen Probleme nicht geringer, im Gegenteil. Obwohl nach dem Sturz
des Tyrannen Ben Ali und seiner Kleptokraten die tunesische Jugend eine neue
Gesellschaft in Würde und Selbstbestimmung hätte aufbauen können, floh sie in
kleinen Barken übers Mittelmeer. Und wie zu erwarten war, ist die islamische
Bewegung »En Nahda« als Sieger aus den Wahlen hervorgegangen.
Wie konnte es dazu kommen?
Die Tunesier sind freundliche und friedliche Menschen. Sie haben 100 neue
Parteien gegründet, die weder ein Programm noch Führungspersönlichkeiten haben.
Die jungen Leute, die die Jasmin-Revolution begonnen haben, sind zersplittert.
Eine wahre demokratische Erneuerung ist
also ungewiss?
Das französische Kolonialregime in Tunesien war relativ lasch. Aber
demokratische Formen konnten sich nicht entwickeln. Ich weiß auch gar nicht, ob
es empfehlenswert wäre für die Tunesier wie überhaupt die Nordafrikaner, unsere
Demokratie zu kopieren. Sie können es selbst nicht wollen, wenn sie sehen,
welche wirtschaftlichen und sozialen Probleme uns zu schaffen machen und wie
ohnmächtig unsere Parlamente sind.
Sie müssen eine ganz andere, originäre
Demokratie entwickeln?
Es muss dort eine Neugründung stattfinden. Da kann man nicht auf frühere Formen
der Demokratie zurückgreifen. Die westliche Überlegenheit stützte sich auf das
kapitalistische Wirtschaftsmodell. Doch dieser Kapitalismus degeneriert jetzt,
ist nicht mehr der calvinistische, puritanische, sondern ein
spekulationssüchtiger Casino-Kapitalismus. Den kann man den Menschen in
Nordafrika wirklich nicht anempfehlen. Welche Gesellschaftsform für sie gut
ist, müssen sie selbst herausfinden.
In Ägypten stehen die Wahlen noch an.
Werden diese die Moslembrüder gewinnen?
Wenn es zu freien Wahlen kommt, voraussichtlich ja. Noch aber hat in Ägypten
der Verteidigungsminister des gestürzten Diktators Mubarak, Marschall Tantawi,
das Heft fest in der Hand. Das Militär regiert das Land, beinah noch totaler
als unter Mubarak. Tantawi ist im Grunde mit mehr Vollmachten ausgestattet als
Mubarak vordem.
Die Moslembrüder hatten einst die
Ärztekammer, die Anwaltskammer, die Handelskammer beherrscht. Das hat Mubarak
gedämpft, er hat ihnen Einfluss entzogen. Die Moslembrüder sind inzwischen
relativ vernünftige Leute, keine Halsabschneider mehr.
Die neuerlichen Übergriffe in Kairo
Anfang Oktober auf Christen lassen aber Schlimmes fürchten.
Die Überfälle auf die christlichen Kopten sind meiner Ansicht nach gezielte
Manöver einer gewissen Gruppe, die eine gemäßigt islamische Entwicklung
verhindern will. Und das sehe ich als sehr gefährlich an, wie ich überhaupt die
wahhabitische Richtung aus Saudi-Arabien als größte Gefahr für die islamische
Welt ansehe. Die Fellachen in den Dörfern, die ja nicht auf dem Tahrir-Platz in
Kairo waren, hören auf den Imam, der am Freitag seine Predigt hält. Und die
wurde früher von Mubarak vorgeschrieben. Heute ist das nicht mehr der Fall.
Und deshalb könnten sich radikale
Islamisten durchsetzen?
Wenn die Hassprediger aus Saudi-Arabien erfolgreich sind, könnte die noch
gemäßigte islamische Bewegung in eine militante Salafiya abgleiten. Es ist für
mich unverständlich, dass das reaktionäre Regime in Riad vom Westen hofiert
wird. Es war kein Protest zu vernehmen, als saudische Panzer die Revolte in
Bahrain niederwalzten.
Auch Gaddafi hat der Westen lange
unterstützt.
Dass der Auftraggeber des »La Belle«- und des Lockerbee-Attentats plötzlich vom
»bad guy« zu einem »good guy« wurde, gehört für mich zu den schändlichsten
Kapiteln der heuchlerischen Menschenrechtsdiplomatie des Westens.
Als der Beschluss über die
Flugverbotszone fiel, hieß es, das Ziel sei nicht der Sturz von Gaddafi.
Das ist natürlich eindeutig das Ziel gewesen. Nur die deutsche Regierung bzw.
die FDP hatte gemeint, sie könnten den Coup von Schröder beim Irak-Krieg
wiederholen. Und dass die Bevölkerung ihnen dies zugute halten wird. Diese
Haltung hat in Washington einen miserablen Eindruck gemacht. Bemerkenswert ist
auch, wie eng die Engländer und Franzosen zusammengearbeitet haben. Man hat den
Eindruck, die Entente Cordiale erlebt eine Wiederauferstehung.
Sarkozy und Cameron kümmerten sich nicht um
die ursprüngliche Auftragsbegrenzung der Vereinten Nationen. In aller
Heimlichkeit waren ihre Elite-Kommandos zu den »Thuwar« gestoßen, den
»Revolutionären«, wie sich die Aufständischen selbst nennen. Sie haben ihnen
die Grundregeln des bewaffneten Kampfes beigebracht. Für sie wurden Munition
und Granatwerfer an Fallschirmen abgeworfen. Die Aufständischen hätten ohne
diese massive Hilfe Gaddafis Truppen nicht standgehalten. Viele Rebellen sind
im »friendly fire« gestorben, als sie, unkoordiniert, die Küstenstraße
vorpreschten, auf der schon Rommels Afrikakorps nach Kairo durchbrechen wollte.
Die NATO-Interventen wollten sicher
schnell an die Ölquellen.
Natürlich ging es beim Einsatz um Erdöl und Erdgas, aber vielleicht auch um
heroische Reminiszenzen. Die Franzosen mögen sich an die kleine Schar »Forces
françaises libres« des Generals de Gaulle erinnert haben, die auf afrikanischem
Boden gegen die Achsenmächte Deutschland und Italien kämpfte. Und vielleicht
hat der Einsatz in Tripolitanien auch bei den Briten nostalgische Erinnerungen
geweckt, an die Schlacht bei El Alamein und das verflossene Empire.
Aber auch Obama hat die NATO-Intervention
mitgemacht.
Die Amerikaner haben sich aber relativ zurückgehalten. Sicher ist jedoch: Ohne
deren Logistik und Spezialwaffen wäre die Operation nicht erfolgreich gewesen.
Ich habe die Bombeneinschläge gesehen. Das war ziemlich präzise Arbeit.
Sie waren vor Ort?
Ja. In Tripolis sieht man keine großen Zerstörungen, außer in Bab el-Aziziya.
Aber Misrata ist durch den Häuserkampf total zerstört worden. Wir sind dort
nachts um 3 Uhr angekommen, haben kein Hotel gefunden und irgendwo in einer
Ecke geschlafen. Am nächsten Tag haben wir dann das totalste Chaos gesehen.
Unglaublich.
Sie reisen noch forsch in Kriegs- und
Krisengebiete. Haben Sie keine Angst, entführt zu werden?
Wer entführt einen 87-Jährigen?!
Wer herrscht jetzt in Tripolis?
Der starke Mann dort ist Abdulhakim Belhadj, ein Al-Qaida-Terrorist und
Salafist, der in Guantanamo saß, von den USA an Gaddafi überstellt und dann von
einem seiner Söhne amnestiert worden ist. Belhadj hat sich nach der Eroberung
von Tripolis als Oberkommandierender der sogenannten Freiheitskämpfer
durchgesetzt und wird zweifellos noch eine entscheidende Rolle spielen. In unserem
Hotel in Tripolis saßen viele freundliche Leute in Tarnuniformen und reichlich
mit Waffen bestückt. Ich fragte: »Zu welcher Gruppe gehört ihr?« Sie sagten:
»Zu Belhadj.«
Warum sagen Sie sogenannte
Freiheitskämpfer?
Weil ich nicht weiß, für welche Freiheit sie kämpfen. Es gibt in Libyen 40
Kataeb, Militärformationen, die wer weiß wem gehorchen. Als ich von Misrata zur
tunesischen Grenze gefahren bin, wurde ich alle zwei Kilometer von anderen
bewaffneten Einheiten kontrolliert.
Sie meinen, die Entscheidung ist in
Libyen noch nicht gefallen?
In keinster Weise.
In der Übergangsregierung sind viele vom
alten Regime ....
Ja, aber die gibt es wohl überall. Man hatte sich darauf geeinigt, nach der
Einnahme von Sirte eine neue Regierung zu bilden. Wer wird in ihr sitzen?
Welche Stämme werden vertreten sein? Ich habe niemanden gefunden, der mir sagen
konnte, wie stark zum Beispiel die kriegerische Bruderschaft der »Senussi« ist,
die in der Vergangenheit in der Cyrenaika immer wieder zur Rebellion aufgerufen
haben und die Gaddafi noch unterdrücken konnte.
Wie stark sind noch Gaddafis ehemalige
Gefolgsleute?
Auch das ist fraglich. Es ist doch erstaunlich, wie lange sie Widerstand
geleistet haben, obwohl ihre letzten Bastionen völlig eingekreist waren, ohne
Zufuhr von Nahrungsmitteln oder Munition. Es könnte noch lange ein
Guerillakampf toben. Selbst die Wüste eignet sich dafür. Die Gefahr eines
Bürgerkrieges ist durchaus real.
Meine größte Sorge ist jedoch, dass sich
diese Unruhe ausbreiten könnte auf die Sahelzone. Sie greift schon auf Niger,
Tschad und Mali über. In Bamako erschien ein Internet-Artikel: »Tripolis o.k. -
Sahel k.o.« Wenn die Söldnerscharen, die für Gaddafi kämpften, zurückströmen,
könnten die ethnischen und religiösen Konflikte in der Sahelzone eskalieren.
Die Sahara ist keine unüberwindliche Barriere mehr, sondern durchlässig wie zur
Zeit von Ibn Battuta und den Sklavenkarawanen.
Kommen wir zum unmittelbaren Nachbarn von
Libyen, dem noch ruhigen Algerien.
Ich war im Mai dort. Das Land scheint nach außen ruhig, aber wenn man in die
Kabylei fährt, spürt man die Spannung. Bei Tizi Ouzou hört die Gemütlichkeit
auf. Da wird einem höflich beschieden: »Da fahren wir nicht weiter.« Kurz nach
meinem Besuch in Tizi Ouzou und Tipaza explodierten Sprengsätze, die Soldaten
und Zivilisten töteten.
Algerien könnte also auch von Gewalt
erfasst werden?
In Algerien ist der Bürgerkrieg der 90er Jahre noch in frischer Erinnerung, als
fast 200 000 Leute umgekommen sind. Dieses starke Trauma erklärt die relative
Ruhe zwischen Constantine und Oran.
Jüngst hat sich Ben Bella wieder zu Wort
gemeldet, einer der Führer des Unabhängigkeitskrieges und erster Präsident
Algeriens, den Boumedienne 1965 heimtückisch stürzte. Der heute über
90-jährige, immer noch charismatische Ben Bella hat ganz gute Ideen. Er sagt,
die Sunna erlaubt eine Anpassung des ewigen Wortes Allahs an veränderte
Umstände; jeder fromme Muslim soll sich um das Gemeinwohl und eine progressive
Auslegung des Korans bemühen.
Und wie steht es in Syrien?
Wir wissen nicht, was dort wirklich passiert. Syrien bleibt geheimnisvoll. Der
junge Charles de Gaulle sagte, als er in das französische Mandatsgebiet
abkommandiert wurde: »In den komplizierten Orient brach ich mit einfachen
Vorstellungen auf.«
In Syrien hat es immer Spannung gegeben. Ich
war 1982 dort, als das Massaker von Hama stattfand, 20 000 Menschen umgebracht
worden sind. Das waren Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen Alawiten,
zu denen die Oberschicht und das Herrscherhaus gehören, und den Sunniten, die
80 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Aber auch da gibt es inzwischen eine
Mittelschicht, die vor allem unter Baschar al-Assad ganz gut gelebt hat, von
Schul- und Wirtschaftsreformen und Bankenmodernisierung profitierte.
»Ehrenmorde« wurden unter Strafe gestellt. Jetzt hatte diese Mittelschicht das
Bild Libyens vor Augen und ist nicht mehr so begeistert von einem totalen
Umsturz.
Orientexperten haben nicht an einen
Umsturz in Libyen geglaubt.
Weil der Lebensstandard der Libyer höher war als der aller anderen Afrikaner.
Bildung und Emanzipation der Frau sind weiter gediehen. Ähnlich wie in Irak
unter Saddam Hussein. Aber das könnte sich jetzt alles wieder ändern. Keiner
kann sagen, ob die im Übergangsrat vertretenen Intellektuellen sich gegen die
»Freiheitskämpfer« behaupten können. Werden die Verfechter einer
»Zivilgesellschaft«, was immer damit gemeint ist, gegen eine im Volk stark
verwurzelte Religiosität ankommen? Wird es zu Fehden unter den Stämmen, zum
Auseinanderdriften von Tripolitanien und Cyrenaika kommen? Werden somalische
Verhältnisse das Land in den Würgegriff nehmen? Ich kann nur sagen: Allah
wahduhu ya'rif. Gott allein weiß es.
Nächste Folge: Syrien