"Eigentlich
müssten die Europäer die USA in die Pflicht nehmen"
Für den Nahostexperten Michael Lüders steht fest: Vor allem die USA sind
verantwortlich für die Krisen in der Region. Die Flüchtlingsbewegung sei die
Quittung für die dortige Interventionspolitik. Washington habe keinen klaren
Plan - und dem folgten Berlin und Brüssel. Vor allem mit Blick auf Ägypten
könne das weitere Folgen haben.
Christine Heuer: 10.000 syrische Flüchtlinge möchten die USA
aufnehmen, 10.000 von vier Millionen Syrern, die auf der Flucht sind, also ein
Viertel Prozent. Und deshalb beginnt es in Europa ein bisschen zu rumoren. Die
ersten weisen auf die Verantwortung der Amerikaner für die immense
Flüchtlingszahl aus dem Nahen Osten hin. Denn es waren die USA, die die Kriege
in Afghanistan, in Libyen oder Syrien geführt oder maßgeblich mitbestimmt haben,
die Kriege also in den noch existenten oder zerfallenden Staaten, aus denen
jetzt die Menschen massenhaft fliehen müssen. Dass Barack Obamas Sprecher,
George Ernest, jetzt gesagt hat, Europa habe die Kapazität, dieses Problem
selbst zu lösen, andere Ankündigungen habe er nicht zu machen, ist für uns
Anlass, das Thema mit dem Nahostexperten Michael Lüders zu besprechen. Guten
Morgen, Herr Lüders!
Michael Lüders: Schönen guten Morgen, Frau Heuer, hallo!
Heuer: Hallo! Die USA wünschen Europa also viel Glück bei der Lösung der
Flüchtlingskrise. Macht Washington sich da gerade einen schlanken Fuß?
Lüders: Ja, in der Tat. Washington könnte mehr Verantwortung übernehmen. Die
Krisen in der Region sind maßgeblich mit verantwortet von der
Interventionspolitik der USA, die allerdings die Europäer überwiegend
mitgetragen haben. Natürlich tragen auch die arabischen Regime ein hohes Maß an
Verantwortung für das, was jetzt geschieht, für diese massive Flüchtlingswelle,
denn die arabischen Regime haben sich stets als unfähig erwiesen, konstruktive
Politik zu betreiben und ihren Bevölkerungen eine Perspektive zu geben. Nur der
Machterhalt interessiert sie, und die Mischung ergibt jetzt eine dramatische
Flüchtlingsbewegung, die noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht hat. Eigentlich
müssten die Europäer jetzt die Amerikaner in die Pflicht nehmen.
Heuer: Was vor allem haben denn die USA falsch gemacht aus Ihrer Sicht?
Lüders: Nehmen wir das Beispiel Irak: Im Irak hat man 2002 einen
völkerrechtswidrigen Krieg gegen einen furchtbaren Despoten, Saddam Hussein,
geführt. Um den muss man sich keine Gedanken machen, ihm muss man keine Träne
nachweinen. Aber die anschließende Besatzungspolitik im Irak hat dazu geführt,
dass es eine konfrontative Haltung gab der Sunniten gegen die Schiiten, der
Kurden gegen die Araber. Und in diesem Chaos entstand ein sunnitischer
Widerstand, aus dessen Reihen dann schließlich der Islamische Staat überhaupt
erst entstanden ist. Der größte Fehler der Amerikaner war, die irakische Armee
aufzulösen und die Baath-Partei von Saddam Hussein.
Hunderttausende Sunniten waren quasi über Nacht arbeitslos. Und diese Sunniten
bilden heute das Rückgrat des Islamischen Staates, dessen militärische
beziehungsweise terroristische Führung wird fast ausschließlich von alten
Saddam-Kadern gefüllt. Das war ein eklatanter Fehler. Und es ist eben dieses
nicht das erste Mal gewesen. Der Islamische Staat ist das Produkt der USA. Al
Kaida, die Taliban in Afghanistan sind entstanden als Reaktion auf die
amerikanische Interventionspolitik dort. Aber man lernt aus diesen Fehlern
nicht. Man macht immer wieder denselben Fehler. Und jetzt haben wir als
Quittung dieser Politik eine massive Flüchtlingsbewegung aus dem Irak, aus
Syrien. In Syrien wollte man und will man um jeden Preis Baschar
al-Assad stürzen, ebenfalls ein furchtbarer Diktator. Aber man muss ja die
Frage beantworten, sollte dieses Regime fallen, wonach es erst einmal nicht
aussieht, wer würde dann die Macht in Damaskus übernehmen? Wahrscheinlich ja
nicht Christ- oder Sozialdemokraten, sondern eher der Islamische Staat. Wo also
ist die Logik dieser Politik?
"Staatszerfall, Anarchie
und Millionen auf der Flucht"
Heuer: Also war es falsch, die Gegner von Assad zu unterstützen?
Lüders: Es war ein großer Fehler, im Jahr 2011 um jeden Preis Baschar al-Assad stürzen zu wollen. Das geschah ja nicht
aus humanitären Motiven, sondern mit Blick darauf, dass Baschar
al-Assad der engste Verbündete des Irans im Nahen Osten ist, und über Syrien
erfolgt der Waffennachschub für die Hisbollah, die Partei Gottes im Libanon.
Also war das Kalkül des Westens, der USA, der Europäer, aber auch der Türkei
und der Golfstaaten, Baschar al-Assad zu stürzen,
sein Regime zu ersetzen durch ein prowestliches, sunnitisches Regime. Dieser
Schuss ist, wenn ich das so sagen darf, im wahrsten Sinne des Wortes nach
hinten losgegangen. Syrien ist zerfallen. Das Regime kann sich mit Mühe in
Damaskus und Umgebung an der Macht halten, hat aber weite Landesteile aufgeben
müssen, weil es die militärischen Kapazitäten nicht hat. Und dort hat der
Islamische Staat Fuß gefasst. Und die sogenannte gemäßigte Opposition, auf die
man im Westen gesetzt hat, die gab es eher in den Köpfen hiesiger Strategen.
Natürlich gibt es gemäßigte und sehr kluge und vernünftige Syrer, zu Zehntausenden
gibt es sie, aber die islamistischen Kräfte sind viel, viel stärker. Das
Ergebnis ist die Situation, die wir jetzt haben: Staatszerfall, Anarchie und
Millionen Menschen auf der Flucht.
Heuer: Herr Lüders, aber ist es nicht eigentlich so, dass nicht so sehr die
Aktionen der Amerikaner schwierige Situationen entstehen lassen, sondern der
Rückzug der Amerikaner? Ich sage mal, im Irak gab es ja zwischenzeitlich
weniger Terror. In Syrien sind rote Linien von Assad mehrfach überschritten
worden, und die Amerikaner sind nicht eingeschritten und die Lage ist weiter
eskaliert.
Lüders: Wenn man die Dinge im Rückblick betrachtet, dann könnte man sich
überlegen, ob es nicht ungefähr ein halbes Jahr nach Beginn der Unruhen in
Syrien ein Zeitfenster gegeben haben mag, wo es tatsächlich möglich gewesen
wäre, das Regime von Baschar al-Assad zu stürzen.
Diese Gelegenheit hat man allerdings verstreichen lassen, damals aus der
Überlegung heraus, es ist riskant, in Syrien zu intervenieren. Danach hat sich
das Regime ganz gut verteidigen können, vor allen Dingen auch durch die
Unterstützung aus Russland, China und dem Iran. Man hat dieses Zeitfenster
verpasst. Und das Problem mit der amerikanischen Politik ist, dass sie nicht
Fisch, nicht Fleisch ist. Sie weiß nicht, was sie will. Im Augenblick
unterstützen die Amerikaner eine dubiose Opposition aus sogenannten gemäßigten
Islamisten, die in der Vergangenheit zu Tausenden übergelaufen sind, nachdem
sie eine gute militärische Ausbildung durch die Amerikaner in Saudi-Arabien
oder in der Türkei oder in Jordanien erhalten haben. Danach sind sie
übergelaufen zum Islamischen Staat oder zu anderen radikalen Gruppierungen,
oder sie haben ihre Waffen verkauft an die Islamisten. Diese Haltung des Nicht-genau-Wissens,
was man eigentlich will - irgendwo hat man in Washington, in Berlin und
anderswo auch verstanden, dass die Truppen von Baschar
al-Assad neben den Kurden die einzigen sind, die dem Islamischen Staat noch
Widerstand entgegensetzen können. Aber welche Konsequenzen hat das, welche
Logik, welche Überlegungen hat das zur Folge? Da gibt es keinen Plan. Man
wurschtelt sich durch, und es gilt hier der alte Spruch: In Gefahr und Not ist
der Mittelweg der Tod.
"Berlin hat keine eigene
Linie"
Heuer: Herr Lüders, aber immerhin versuchen die USA überhaupt, Einfluss zu
nehmen. Deutschland hält sich ja gern zurück.
Lüders: Die Problematik der deutschen Politik besteht darin, dass sie gegenüber
den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wie auch die übrige Europäische
Union keine eigene Linie verfolgt. Im Wesentlichen ist die deutsche Politik
eine Befolgung amerikanischer Ideen oder auch Vorgaben, und man setzt diese um
oder versucht sie, ebenfalls mit umzusetzen, mit zwei Ausnahmen: Deutschland
hat sich nicht beteiligt am Krieg 2003 gegen Saddam Hussein, und Deutschland
hat sich nicht beteiligt an dem Sturz von Gaddafi. Aber darüber hinaus teilt
man diese Politik und hat nicht das Rückgrat, eine falsche Politik zu
korrigieren. Aktuelles Beispiel: Die Entscheidung der türkischen Regierung,
gegen die Kurden Krieg zu führen, die wichtigste Gruppierung, die Krieg führt
gegen den Islamischen Staat. Eigentlich müssten die NATO, die Europäische
Union, die Regierung in Berlin die türkische Regierung in die Pflicht nehmen,
ihr sagen, eure Politik ist wahnsinnig, dass ihr die Kurden bekämpft. Ihr müsst
sie im Gegenteil unterstützen. Das macht man aber nicht. Es gibt keinen
einzigen Politiker der Bundesregierung, der die Türkei hier öffentlich
kritisieren würde. Das ist ein falsches, ein rückgratloses Verhalten, und dafür
bezahlen wir einen hohen Preis, eben auch in Form der Flüchtlingsbewegung. Und
was in Gottes Namen reitet die Bundesregierung, in Ägypten die Polizei
auszubilden, auf dass sie die Demonstrationen, die künftig folgen werden in
Ägypten und mehr und mehr zunehmen werden, niederschlagen können? Ägypten ist
ein Land mit 90 Millionen Einwohnern. Wenn dieses nun auch ins Rutschen gerät,
und danach sieht es aus, und von 90 Millionen auch nur zehnt
Prozent, also neun Millionen auf die Idee kommen, über Libyen nach Europa zu
fliehen, wohin soll das führen? Es ist höchste Zeit, die Politik zu überdenken,
aber das geschieht nicht. Wir haben zu wenig Akteure,
die nach vorne blicken und auch nur bereit sind, die Probleme in der Region zu
erkennen.
Heuer: Ein Akteur guckt jetzt vielleicht nach vorne: Wladimir Putin, der
russische Präsident. Da gibt es jetzt erste Anzeichen, dass er mitmachen könnte
beim Kampf gegen den Islamischen Staat. Ist eine Lösung für Syrien insofern in
Sicht?
Lüders: Wenn Russland, der Iran, China, die USA und die Europäer an einem
Strang ziehen, dann ist es möglich, diesen Konflikt nicht zu beenden, aber doch
in Schach zu halten. Es geht vor allem um die zentrale Frage, was geschieht mit
dem Regime von Baschar al-Assad, und wie will man
hier eine Politik betreiben für eine mögliche Zeit danach. Russland und Iran
haben signalisiert, dass sie bereit sind, Baschar
al-Assad von der Macht zu entfernen, ins Exil zu bitten nach Russland
beispielsweise. Das Regime soll aber im Kern erhalten bleiben, in und um
Damaskus wenigstens. Ob sich die Amerikaner darauf einlassen, ist eine andere
Frage. Aber Russland hat, genauso wie der Iran, ein großes Interesse daran,
dass dieses Chaos sich nicht ausweitet, übergreift auf den Kaukasus, und der
radikale Islam auch dort Fuß fasst. Es gibt hier also gemeinsame Ansätze einer
konstruktiven Politik mit Russland, mit dem Iran. Aber es muss auch den Willen
geben, die gemeinsam zu betreiben.
Heuer: Und Sie finden, das entscheidet sich jetzt wieder in den USA? Es ist an
Washington, zu handeln?
Lüders: Washington ist der wichtigste globale Akteur in den Ländern des Nahen
und Mittleren Ostens, auch wenn die Macht Washingtons zügig dabei ist, zu
erodieren, nicht zuletzt deswegen, weil viele Staaten in der Region erkannt
haben, dass es eine große Kluft gibt zwischen dem Freiheitsversprechen der USA
und des Westens einerseits und der Realpolitik andererseits. Insoweit sind die
Dinge sehr im Fluss. Keiner weiß, wie es in Syrien, im Irak, in der Region in
drei, in vier, in fünf Jahren aussehen wird. Aber klar ist, die humanitäre
Katastrophe wird sich fortsetzen. Und wie erwähnt: Wenn erst mal von Ägypten
aus die Menschen anfangen, ebenfalls zu flüchten - und das ist abzusehen -, dann
weiß ich nicht, wie Europa damit umgehen wird. Ich denke, die Europäer sind gut
beraten, ihre eigenen Interessen klar zu definieren, nötigenfalls auch in
Abgrenzung zu den USA.
Heuer: Der Nahostexperte Michael Lüders. Herr Lüders, haben Sie vielen Dank
für das Interview!
Lüders: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen
wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in
Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.